Wie der Mittelstand den Sprung in die Industrie 4.0 schafft
WirtschaftsförderungDigitalisierung des produzierenden Gewerbes einfach umsetzen
Viele Produktionsmaschinen sind jahrzehntelang im Gebrauch – und zu alt, um sich mit dem Internet zu verbinden. Ein Hindernis für die Digitalisierung in der Industrie. Wie sich in die Jahre gekommene Anlagen mit wenig Aufwand digitalisieren lassen, das untersucht ein Bremer Forschungsprojekt anhand einer Windkraftanlage.
Arne Schulz zückt sein Handy und öffnet eine App. Ein paar Tastendrücke später werden aktuelle Daten einer Windkraftanlage in Bremerhaven visualisiert und ausgewertet. Auf dem Smartphone des Bremer Cloud-Computing-Experten erscheinen erste Werte wie Windgeschwindigkeit, Leistung oder Anlagenstatus.
Windenergieanlagen aus der Ferne zu steuern, das ist keine Neuigkeit – alle Anlagenhersteller haben ihre modernen Anlagen heute vollständig digitalisiert. Aber das hier ist keine moderne Anlage. Und die App stammt nicht aus der Feder eines großen Windenergie-Konzerns.
Ein digitales Abbild der Realität – die virtuelle Windkraftanlage entsteht
Erstellt haben sie Arne Schulz und sein Team. Sie wollen damit zeigen, dass Digitalisierung auch mit wenig Ressourcen gelingen kann. „Die App ist ein Leuchtturmprojekt für uns. Windenergieanlagen sind unzugänglich, denn sie stehen meistens im Feld. Es ergibt Sinn, sie digital zu überwachen. Deshalb haben wir sie für unser Pilotprojekt ausgewählt“, so der Geschäftsführer und Gründer des Bremer IT-Unternehmens Axtrion.
Zusammen mit der Universität Bremen – genauer dem Bremer Centrum für Mechatronik (BCM) und dem Bremer Institut für integrierte Produktentwicklung BIK hat der Cloud-Dienstleister das Forschungsprojekt „Krogital - Digital Cloud-Twin Krogmann 15/50“ ins Leben gerufen.
„Das Ziel ist es, eine Bestandsanlage mit umfassender Sensorik zu digitalisieren, um so komplexe Steuerungs- und Regelungssysteme digital umzusetzen und letztlich in einem digitalen Zwilling abzubilden. Und das alles in einem überschaubaren Umfang. So zeigen wir, dass Industrie-4.0-Prozesse auch für den Mittelstand darstellbar sind“, ergänzt Dr. Holger Raffel, Leiter des BCM und zuständig für die Planung und Technologietransfer im Projekt.
Shopfloor trifft Headfloor
Der digitale Zwilling – also das vollständig digitale Echtzeit-Abbild eines realen Prozesses – ist ein Herzstück der Industrie 4.0. Denn im Digitalen wird so möglich, was im Realen nur schwer umzusetzen ist: Etwa das Testen und Simulieren verschiedener Anlagen-Konfigurationen, um die eigenen Prozesse optimieren zu können. Oder auch die Echtzeitüberwachung von realen Vorgängen von überall auf der Welt per App.
„Wir nennen das auch ‘Shopfloor trifft Headfloor’: Informationen gelangen aus der Produktion in Echtzeit direkt in die Management-Ebene und nicht erst Tage, Wochen oder Monate später, wenn sie in Berichten und Reports zusammengefasst werden. Die Geschäftsführung kann durch einen digitalen Zwilling direkt sehen, was passiert. Alles in der Hosentasche, auf dem Handy“, so Arne Schulz.
Die Cloud als Wegbegleiter in die Industrie 4.0
Möglich machen das zwei Dinge: einerseits Sensoren an den Maschinen und andererseits deren Anbindung in einer Software in der Cloud. Im Bremer Forschungsprojekt wurde die Kleinwindkraftanlage etwa im Nachhinein mit Sensoren ausgestattet, die in der Lage sind, hochfrequente Daten zu erfassen und ins Internet einzuspeisen. Der Dienstleister Axtrion baute dann auf Grundlage der Microsoft-Azure-Cloud eine webbasierte Software, die diese Daten verarbeitet und in Form eines digitalen Zwillings darstellt.
„Wir können jetzt mit den aufgezeichneten Daten etwa eine Betriebsstrategie entwickeln, um einerseits optimale Windausbeute zu garantieren, aber auch aktuelle Bedürfnisse des Stromnetzes zu berücksichtigen“, zeigt Dr. Raffel einen exemplarischen Anwendungsfall für den digitalen Zwilling aus dem Forschungsprojekt auf.
Modellprojekt auf die ganze Industrie anwendbar
Im Projekt geht es aber um viel mehr als nur eine digitalisierte Windkraftanlage. „Wir haben ein Framework gebaut – ein modulares Programm – mit dem wir jetzt Prozesse in den verschiedensten Branchen digitalisieren können. Da die einzelnen Bausteine auf standardisierten Produkten beruhen, können wir sie leicht anpassen, warten und optimieren“, führt Schulz weiter aus.
Damit hat der Cloud-Experte eine Antwort auf Fragen geschaffen, die sich mittelständische Unternehmen immer wieder stellen. „Wir sind oft mit Betrieben im Gespräch, die uns fragen: Industrie 4.0 – wo kann man das kaufen? Und wie teuer ist das? Oder uns sagen: Sprechen Sie mal mit der IT-Abteilung, die machen das schon. Vielerorts fehlt das Verständnis dafür, mit was wir es überhaupt zu tun haben“, so Schulz.
Jetzt könne er in Kundinnen- und Kundengesprächen einfach das Handy zücken und ganz anschaulich zeigen, was Industrie 4.0 sein könne – eben die Vernetzung der Produktionswelt durch digitale Services. Durch die verschiedenen Module der neuen Software ließen sich alle möglichen Prozesse und Datenquellen verbinden, ob es nun zum Beispiel Sensordaten sind, welche den Maschinenverschleiß überwachen oder Bilderkennungssysteme, welche die Qualitätskontrolle in der Fabrik übernehmen, die Möglichkeiten sind endlos.
„Nehmen wir als Beispiel einmal Siemens. Die haben europaweit all ihre verkauften Computertomographen vernetzt und können diese von der Ferne aus warten. So ein komplexes Projekt war früher nur für Konzerne wie eben Siemens umsetzbar. Durch die standardisierten Cloud-Module der großen Hersteller wie Microsoft, Amazon oder Google kann sich das nun auch der Mittelstand leisten. Und wir haben die Softwareumgebung dazu erforscht“, so Schulz.
Neue Geschäftsmodelle erschließen
Das Forschungsvorhaben hat sich damit für den Bremer IT-Dienstleister mehr als gelohnt. „Das Projekt ist ein Türöffner für uns. Vor allem im Maschinenbau können wir damit die Geschäftsführungsebene begeistern. Alleine wären wir das Thema nie angegangen, weil es zu weit von unseren bisherigen Aufgaben entfernt war. Das Projekt hat uns erlaubt, weiter in die Zukunft zu schauen. Auf Basis dessen können wir Produkte entwickeln, die wir Kundinnen und Kunden künftig anbieten“, so Schulz weiter.
Auch auf wissenschaftlicher Seite wertet Dr. Holger Raffel das Projekt als Erfolg. „Die Anbindung an die Cloud war ein neues Level für uns. Auf Basis der Erkenntnisse können wir jetzt neue Forschungsprojekte angehen, die sich zum Beispiel mit intelligenten Steuerungen befassen, die über Clouddienste verbunden sind.“
Forschungsvorhaben, bei denen alle profitieren
Das Forschungsprojekt ist im Rahmen des Programms zur Förderung anwendungsnaher Umwelttechniken (PFAU) der BAB – Die Förderbank entstanden. Es unterstützt insbesondere kleine und mittlere Unternehmen im Verbund mit Forschungseinrichtungen bei der Entwicklung von Vorhaben mit positiven Auswirkungen auf die Umwelt.
„Wir sehen hier vorbildlich, wie drei unterschiedliche Partner ihre jeweiligen Expertisen kombinieren und damit etwas Neues schaffen, das sogleich seinen Weg in die praktische Anwendung findet. Ein schöneres Ergebnis für ein Forschungsprojekt kann es kaum geben“, freut sich auch Dr. Alla Kress von der BAB.
Dem pflichtet auch Arne Schulz bei: „Alle drei Partner haben wunderbar miteinander harmoniert. Aus der Zusammenarbeit, dem eingebrachten Wissen sind Synergien entstanden, was wir im Vorfeld nicht erwartet hätten. Das aus dem Projekt gewonnene Know-how konnten wir bereits in Kundenprojekten anwenden. Es hat uns wieder gezeigt, wie wertvoll Forschungsprojekte gerade in der heutigen, technologiegetriebenen Zeit sind.“
Dieses Programm wird zum Teil mit Mitteln aus dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) kofinanziert.
Erfolgsgeschichten
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